Die Erstveröffentlichung dieses Textes war vor 19 Jahren. Er erschien im Jahr 2003 in der Ausgabe 04 des Fachmagazins «maschine+werkzeug».
Mancher ärgert sich heute vielleicht über teure Messeauftritte, aufwändige Ausstellungsbesuche und lange Stunden im Stau. Doch in einer nicht mehr ganz so fernen Zukunft vermissen wir das Messe(un)wesen. Ein Blick zurück aus einer wahrlich «cyberhaften» Zukunft.
«Oh Gott, schon wieder «cybern»,» stöhnt Dr.-Ing. Jan-Ulrich Steffens, Produktionsleiter und Geschäftsführender Gesellschafter der Firma Steffens GmbH & Co. KG aus dem württembergischen Kaltentahl. Das 1797 als Kutschenfabrik von seinem Urahn gegründete Unternehmen produziert EFAs. Hinter diesem Kürzel verbergen sich die harmlosen Worte «emissionslose Fahrzeuge». Exakt heisst das: Steffens Fabrik stellt Fahrräder und Rikschas in allen Varianten her. Sie dominieren das europäische Strassenbild im Jahr 2020. Die Palette reicht vom einsitzigen Kinderfahrrad, dem Tandem für Paare bis hin zum Lasten-Fahrrad für den Nahverkehr. Die Fahrräder und Rikschas lösten im Jahr 2018 die Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor weitestgehend ab.
Schuld daran waren nicht nur der hohe Spritpreis, der mittlerweile gigantische fünf Euro der Liter kostete, der Umweltschutz oder die extrem hohe Autobahnmaut. Nein, schuld daran war vor allem das «Cybern».
Es fing alles ganz harmlos Ende des letzten Jahrtausends an: Das Zauberwort lautete E-Commerce – also Verkaufen und Kaufen via Internet. Mit der weltweiten Vernetzung von Millionen Menschen tat sich ein neuer Vertriebskanal der preisgünstigen Art auf. Anfangs lächelten die Vertreter der «old economy» noch, zumal als eine gigantische Pleitewelle über die oft zu schnell und zu hektisch gegründeten hereinbrach. Doch es handelte sich nur um einen kurzen Zwischenstopp in eine schöne, neue Cyber-Welt.
Der Durchbruch kam mit grossen Aktionshäusern, die anfangs Ware nur versteigerten und dann auch verkauften. Ein Marketingexperte: «Plötzlich leckten alle Blut!» Es gab nun fast nichts mehr, dass der Besitzer eines PC und eines Telefonanschlusses nicht bequem von zuhause aus ordern konnte: Die Palette reichte von der Briefmarke, dem Online-Bahn-Ticket bis hin zum kompletten Haus. Angekurbelt wurde der Trend von den Oktakus, einer völlig neuen Generation von jugendlichen Medien-Virtuosen, die laut Trendforscher Matthias Horx aus Hamburg «ihre Vorlieben und Hobbys auf den planetaren Datennetzen pflegen». Und ein echter Oktakus geht nicht mehr in den Supermarkt oder Reisebüro, sondern ordert alles auf dem Internet.
Diese Sturm-und-Drang-Zeit des direkten Verkaufs nach dem Muster B2B (Kürzel für Business-to-Business) verführte sogar altgediente Fachjournalisten, sogenannte Printokraten, zu stilistischen Meisterleistungen. Der eine fragte in einem Fachblatt frei nach Shakespeare «B2B or not B2B ...». Ein anderer Printokrat versuchte sich sogar in Cyber-Lyrik: «In der alten Ökonomie gab es zum Beispiel federleichte, sündhaft teure, tonnenschwere, schillernd bunte, spottbillige oder sehr leckere Produkte. Die neue «Mousesociety» kennt nur noch ein Adjektiv: anklickbar.»
Der verhaltene Widerstand gegen diesen Trend hatte keinen Zweck. Selbst in der altehrwürdigen Werkzeugmaschinen-Branche scherte ausgerechnet ein Traditionsunternehmen frühzeitig aus. Im Jahr 2000 startete Gildemeister anfangs belächelt den Verkauf von Einsteigermaschinen über das Internet. Kurz darauf folgte auch namensmässig der Einstieg der WZM-Welt in das WWW-Welt: Yamazaki Mazak stellte den e-Tower vor, dessen «Cyber Production Center» (CPC) Werkzeugmaschine und Internet miteinander verheiratet. Apropos Mazak: Die Oktakus stammen übrigens ursprünglich aus Japan.
Die Oktakus vercybern die Welt
Ob aber Chefs von Werkzeugmaschinenfirmen damals klammheimlich dem Oktakus-Klan nahe stand, ist nicht bekannt. Fest steht dagegen eines. Die einstigen Multimedia-Freaks wurden erwachsen, erlernten einen Beruf oder studierten. Dann ver-»cyberten» die Oktakus die Welt – als Manager, Entwickler, Programmierer und vor allem als Einkäufer und Konsumenten. Die Folge: Erst starben die Bücherläden, dann die Supermärkte, Reiseshops, die Autohäuser und schliesslich kamen die Messen dran.
«Die Messegesellschaften waren selbst schuld, erinnert sich Wilhelma von Neustetten, die Marketingleiterin von Cyber-Fair, dem mittlerweile weltweit dominierenden virtuellen Messeplatz. Zu Anfang des neuen Jahrtausends war die deutsche Messewelt noch in Ordnung. Die Nase vorn hatte Deutschland mit dem grössten Schaufenster der Welt: Zwei Drittel der global führenden Messen aller Branchen fanden hier statt. Mit diesen Leitmessen und vielen anderen regionalen sowie überregionalen Ausstellungen verdienten die Messegesellschaften rund 2,5 Milliarden Euro.
... damit nicht dauernd neue Messen entstehen
Eine exklusive Ausnahmerolle spielten die Fachmessen rund um die Werkzeugmaschine. Die Palette reichte von der Leitmesse EMO in Hannover, über die Metav in Düsseldorf, die Metav Süd in München, die AMB in Stuttgart, die Fameta in Sinsheim bis hin zur Nortec in Hamburg. Es handelte sich zwar um eine überschaubare Anzahl an Messen, trotzdem störte sich mancher an Preisen und Aufwand. Manche dachten sogar schon laut über Messeabsprachen nach.
So sagte ein bekannter Maschinenbauer: «Wir Unternehmer sollten uns auf einige Kernmessen einigen. Wir haben zwar als Messekunden die Möglichkeit, selbst den Messeauftritt zu bestimmen. Doch wenn viele Wettbewerber sich für eine Messe entscheiden, dann kann man kaum noch wegbleiben.» Der Fachmann aus der Werkzeugmaschinenbranche empfahl daher der Angebotsseite, «selber regulierend eingreifen, damit nicht dauernd neue Messen entstehen, die kaum noch jemand alle besuchen kann.» Sein Wunschtraum von «einer Handvoll hochqualitativer Kernmessen» erfüllte sich jedoch nicht.
Eigene virtuelle Messe zusammenstellen
Manche Unternehmen blieben sogar ganz und gar den Messen fern: Sie setzten auf Hausausstellungen. Doch bald merkten auch diese Ausstellungs-Verweigerer, dass Kernmessen wie die EMO oder METAV ideale Stätten sind, um das Informationsbedürfnis zu befriedigen. Das beste Argument für den Messeauftritt lieferte damals METAV-Vorsitzender Dr. Detlev Elsinghorst: «Nur dort kann der Kunde der Werkzeugmaschinenindustrie ein Benchmarking mit den Füssen machen, um auf engem Raum eine Vielzahl von Maschinen miteinander zu vergleichen.
Doch einige, wenige Messen verleideten den Ausstellern und Besuchern das Leben. Für Aufregung in der Messeszene sorgte beispielsweise ein Kommentar in maschine+werkzeug, der später sogar in voller Länge in einer Tageszeitung erschien. Der damalige Chefredakteur Hubert Winkler zitierte kritische Stimmen über eine süddeutsche Messe: «Wir standen bei schweisstreibender Hitze in unserer Halle meist in Tuchfühlung mit unseren Gesprächspartnern. .... Das war persönlich empfundene permanente Körperverletzung ... Nicht der gewünschte Standplatz – viel zu klein, zu unrepräsentativ.»
Doch wenige Jahre darauf kommt das Besinnen der Branche zu spät. Erste Anzeichen spürt ein namhafter Veranstalter, der im Jahr 2003 kurzfristig eine Messe absagt. Mit visionärem Gespür begründet der Unternehmer die Absage so: «Die Neuorientierung der deutschen und europäischen Metall-Fachmessen wirft ihre Schatten voraus.»
Was der süddeutsche Unternehmer nicht wissen konnte; wenige Jahre später verdunkelte ein Ereignis das Messewesen, von dem keiner zu träumen gewagt hatte: Ein mächtiger, weltweit tätiger Softwarekonzern gründete seine Tochter Cyber-Fair mit Stammsitz in Tokio. Die Tochterfirma stellte auch kurz darauf das neue Internet-Programm vor, mit dem sich ein Anwender selbst eine eigene virtuelle Messe zusammenstellen kann. Das allmächtige Programm mit dem bezugreichen Namen «Oktakus-Now!» verknüpft die Inhalte der Homepages der unterschiedlichsten Hersteller.
Kein Produkt, dass nicht im Internet zu finden war
Anfangs belächelten fast alle das Cyber-Programm. Kommentar von Karla Kolumna, Chefredakteurin von Technik-Bild: «Als virtuelle Lachnummer sehen nicht nur Messeveranstalter die neue Software Oktakus-Now! von Cyber-Fair an. Mit dreidimensionaler Brille und Datenhandschuh sollen ab sofort der Autofreak und der Maschinenkäufer bequem vom PC aus ihre Messebesuche vornehmen. Die Idee ist nicht schlecht, krankt aber an uneinheitlichen Homepages, schlechten Downloadraten und vorprogrammierten Systemabstürzen auf dem stets überlasteten Internet.»
Jeder Kritikpunkt war berechtigt: Trotzdem entwickelte sich das Messeprogramm zum Renner. Zunächst entwickelte es sich zum Hobby, eigene Messen auf dem PC individuell zu kombinieren. Da standen dann virtuell einträchtig nebeneinander der Ferrari, der Stand mit Rolex-Uhren und die Ausstellungsfläche der Stammbrauerei. Doch richtig cyberhaft wurde es erst mit rasant-schnellen Datenverbindungen, die den Zugriff auf die ersten echten dreidimensionalen Bilder erhielten. Schritt für Schritt stiessen immer mehr Hersteller hinzu, die ihre Produkte dreidimensional scannten und dann auf ihre Homepage stellten. Bald darauf gab es fast kein Produkt mehr, das nicht im Internet stand.
Öffentliche Virtual Reality Houses (VRH)
Die grosse Stunde des Profits schlug mit den grossen Investitionsmessen: Im Gegensatz zu den Konsumenten, denen das Begutachten von Automobilen, Uhren oder Kerzenständern per 3D-Datenbrille ausreichte, wünschten sich Einkäufer und Produktionsleiter exakte Darstellungen. Kurz darauf schossen – analog zu den einstigen Telefonhäuschen – öffentliche Virtual Reality Houses (VRH) aus dem Boden. Es handelte sich dabei um eine Gemeinschaftserfindung der EDV-Experten des Werkzeugmaschinenlabors aus Aachen und Tan Projektionstechnologie aus Düsseldorf, dem Europamarktführer für industrielle Virtual Reality-Anlagen.
Diese Standard-Zellen besuchen seitdem Firmen, die sich im Gegensatz zu den grossen Konzernen keine eigenen virtuellen Laboratorien leisten können. Dazu gehört auch die Steffens GmbH & Co. KG aus dem württembergischen Kaltentahl. Deren Chef schwingt sich auf das Luxusmodell der EFA-Fabrik, um in einem nahegelegenen, öffentlichen VRH etwas zu cybern. Dr. Steffens sucht eine neue Maschine, die Kunststoff und Glasfasern zu Fahrradrahmen umformt.
Dr. Steffens nimmt im ergonomisch geformten Sitz Platz und schon begrüsst ihn eine angenehme Frauenstimme: «Dr. Steffens, ich freue mich, Sie wieder einmal bei Cyber-Fair begrüssen zu dürfen. Was kann ich für Sie tun.» Es handelt sich dabei nicht um Zauberei. Der Computer identifiziert im Jahr 2020 europäische Bürger anhand eines Armband mit Chip. Dr. Steffens speichert darauf beispielsweise elektronisches Geld, wichtige Firmeninfos und Kundendaten. Mediziner pflanzen Neugeborenen den Datenchip seit Kurzem sogar ein.
Erste Anwendung in Richtung Datenchip gab es bereits zu Anfang des neuen Jahrtausends. Der Elektronikkonzern Siemens entwickelte beispielsweise im Jahr 2003 für italienische Berufssoldaten die sogenannte Defense Multipurpose Card. Der elektronische Erkennungsausweis enthielt neben personenbezogenen Daten und einem Foto auch den Fingerabdruck, Gesundheitsdaten sowie zwei digitale Zertifikate für sichere E-Mail, Authentifizierung und digitale Signatur.
3D-Brille auf und los geht's im Cube
Zurück in die VR-Zelle. Dort antwortet Dr. Steffens: «Ich suche eine Maschine, die Kunststoff und Glasfasern zu Fahrradrahmen umformt.» Die zauberhafte Frauenstimme will noch kurz ein paar Details wissen, und dann startet die Cyber-Tour: Der Produktionsleiter setzt sich seine 3D-Brille auf und blickt sich um in der sogenannten Cube, einem Raum mit vier Projektionswänden. Er befindet sich auf dem Messestand der Firma Müller Umformtechnik aus Wahlstedt bei Hamburg. Ein virtueller Assistent kommt und führt ihn zu den Maschinen.
Dort erblickt er auch schon das Objekt seiner cyberhaften Begierde: Eine Kunststoffumformmaschine, die vor dem Umformen automatisch Glasfasern einlegt. Dr. Steffens legt den Datenhandschuh an und bedient – assistiert von seinem virtuellen Begleiter – die Maschine. Danach lädt er sich vom Firmencomputer Infos zu Preisen, Lieferzeiten und technischen Daten in seinen Datenchip.
«Gennste eine Maschine, gennste alle»
Nach diesem Muster besucht er auf seiner ganz privaten Maschinenmesse zehn Firmen. Anschliessend bucht er noch einen Kurztrip zu Werkzeug- und Formenbauern, die passende Tools herstellen. Anhand dieser Daten könnte er nun gleich eine Maschine ordern, denn dank strikter Lastenhefte und ähnlich langweiligem Corporate-Design gleichen sich die Anlagen in jeder Hinsicht. Sogar die Preise fallen – dank nicht nachweisbarer Preisabsprache via E-Mail und SMS – bis auf eine Stelle hinter dem Komma gleich aus. Daher wäre eine Bestellung keinerlei Risiko. Oder wie ein sächsischer Unternehmenskollege einmal nach dem Cybern stöhnend konstatierte: «Gennste eine Maschine, gennste alle.»
Doch er will zuvor seine Mannschaft befragen. Die gesamte Besichtigungstour lässt er sich daher für die Besprechung im Stammhaus auf einem winzigen Kunststoff-Würfel speichern, weil die Speicherkapazität seines Chips für gigantische VR-Daten nicht ausreicht. Dann kommt der unangenehmste Teil dieser Cyber-Tour. Die bezaubernde Frauenstimme fragt: «Dr. Steffens, Sie befanden sich zwei Stunden, 53 Minuten und zwei Sekunden auf Cyber-Fair. Das kostet 1549 Euros und 23 Cent. Welches Konto dürfen wir damit belasten?» Dr. Steffens stöhnt kurz und nennt dann die Kontonummer des Entwicklungsfonds.
Bei der Fahrradfahrt zurück zur Firma murmelt er vor sich hin: «Klar, Cyber-Fair ist effektiv, umweltbewusst und preiswert! Zwei Messebesuche hätten früher mindestens 2500 Euro gekostet. Trotz alledem vermisse ich die Staus, den Lärm, die Hitze und das Drumherum einer echten Messe. Aber Gott sei Dank gibt es ja heute Abend wieder ein AOK-Treffen!»
Zurück zu den Wurzeln: mit real existierenden Maschinen
Mit Krankenkasse hat AOK nichts zu tun: AOK ist das Kürzel des Anti-Oktakus-Klub. Die Mitglieder dieses neugegründeten Vereins sind keine neuen Maschinenstürmer, sondern träumen von schönen, alten Zeiten. Ein echter AOKler kommuniziert nicht per E-Mail oder SMS, sondern ruft über ein analoges Telefon an. Statt nächtelange zu Chatten mit wildfremden Menschen, trifft er sich mit Freunden zum Klönen.
Heute gibt es im Klubhaus aber ein echtes Highlight: In einer stillgelegten Fabrikhalle veranstaltet der AOK Kaltenthal eine kleine Werkzeugmaschinenmesse. Es handelt sich aber nicht um einen Flohmarkt oder eine Gaudi: Echte Maschinenhersteller der Region stellen neue Bearbeitungszentren vor. Dr. Steffens strampelt auf seinem Rad und träumt: «Heute Abend atme ich wieder Messeluft aus einer echten, viel zu warmen, stickigen Klimaanlage. Und dann erkunde ich genussvoll mit allen Sinnen – ohne 3D-Brille und Datenhandschuh – real existierende Maschinen. Zwischendurch befragt mich dann vielleicht ein Fachjournalist einer ehemaligen, echten gedruckten Fachzeitschrift nach meinen Messeeindrücken. Danach gibt es einen richtig schönen Stammtisch mit vielen Kollegen und viel Bier.»
Beim Bier hört Dr. Steffens dann die heisseste Nachricht des Tages. Ein Freund aus der EDV-Szene, der verständlicherweise als AOK-Mitglied anonym bleiben will, erzählt die Top-News aus den Online-Nachrichten: «Weisst Du schon, Jan Ulrich. Wir brauchen uns nicht mehr zu verstecken. Demnächst gibt es wieder eine echte Messe mit Produkten zum Anfassen. Kunden und Aussteller hatten nämlich die Nase vom Cybern voll. Und es sind – halt Dich fest – die Anbieter von Hard- und Software, die in Hannover wieder eine Mini-Cebit veranstalten!»
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Textquelle: Nikolaus Fecht
Bildquelle: zVg
Redaktionelle Bearbeitung: Technik und Wissen
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